manchmal fliegen meine Hände davon

behindert. behindert, behindert, behindert
ich streiche das Wort wieder durch
lege es mir orientierungslos in den Mund
auf die Zunge
fast ein wenig zu groß für einen einzelnen Bissen
es erinnert mich zunächst an ein Vesperbrot
eines, das zu lange, Tage vielleicht in der Brotdose lag
schimmelt noch nicht
aber schon lange eine Mahlzeit zweiter, dritter, vierter Klasse
die niemand mehr essen wird
durch meinen Speichel zersetzt, wird es weicher und weniger bitter
beginnt beinah süßlich zu schmecken
ich fange an zu kauen
zermalme die Buchstaben zwischen meinen Backenzähnen
schlucke ihre Masse, verschlucke mich fast
soll doch mein Magen schauen
wie er behindert verdaut.

mein Magen nimmt sich der Sache an
ich rechne mit Übelkeit
die ausbleibt
ein leises Grummeln stattdessen
er will mehr
ich schiebe mir die Zettel mit den Diagnosen zwischen die Zähne
und zwei, drei Wikipedia-Seiten und ein Fachbuch hinterher
leichte Kost, so wichtig
und dann würge ich doch
man stellt mir einen Eimer hin
jemand kocht Tee
und reicht mir einen harmlosen Lyrikband
weil der Zwieback alle ist.

ich blicke auf die Misere im Eimer
zu schnell zu viel gewollt
ich schütte es weg
die Buchstaben schwimmen oben in der Kloschüssel
gänzlich unverdaut
offenbar doch unzerkaut
zweifle kurz an meinem Mundwerk
an meinen Magensäften, die sie ohne Schaden davonkommen ließen
starre auf die Lettern

wie sie dümpeln
drücke die Spülung
erwarte, sie in einem Wirbel
aus Wasserstrudeln in der Kanalisation verschwinden zu sehen
doch als das Wasser wieder stillsteht
treiben sie noch immer an der Oberfläche
auch nach dem zweiten Spülversuch
ich fische die Buchstaben also heraus
Ekel überwindend, alles in mir sträubt sich
ich wasche die Buchstaben im Waschbecken ab
lege sie auf ein Handtuch auf der Fensterbank
und schaue ihnen beim Trocknen zu.

nass wie trocken sehen sie gleich aus
ich ordne sie an in ihrer ursprünglichen Form
und lasse sie liegen
ihre Blicke scheinen mich zu verfolgen
selbst wenn ich die Wohnung verlasse
spüre ich sie auf mir
ich wusste bisher nicht, dass Worte Augen haben können.

ich versuche die Blicke zu ignorieren, zu vergessen
nach einigen Tagen ergebe ich mich
ich nehme behindert von der Fensterbank
setze das Wort vorsichtig aufs Sofa
wo es einsinkt, so gewichtig
setze mich daneben
nur die Bedeutung zwischen uns
ich nähere mich ihm an
vorsichtiger dieses Mal, sachter
erzähl mir von dir
flüstere ich schließlich
und beginne.

es war einmal das Kind, das ich war
schweigsam bis es zwei war
zu viele Worte mit sieben
aber zurückhaltend, so sind Mädchen eben
schön, dass das Kind so viel liest
und so viele Interessen hat
wie gewissenhaft es ist
beeindruckend seine Auffassungsgabe
wir verstehen wirklich nicht, wieso es ständig ausrastet in der Schule
vielleicht unterfordert
nein, zusätzliche Förderung können wir leider nicht leisten
also liest das Kind im Unterricht die Schulbibliothek aus.


dann spielt es Theater
Mensch, toll
und fällt dir das Textlernen schwer
magst du es in verschiedene Rollen zu schlüpfen
das Kind verneint und bejaht und schweigt
über all seine Rollen
für die es kein Script gibt
so sehr es auch sucht
für das Mädchen, das es sein soll
es verweiblicht sich
so gut es geht
bis auf weiteres
Drag Queen seiner selbst


to all those talented yet academically underperforming theatre kids
how’s your AuDHD diagnosis going

blinkt es mir auf Instagram entgegen
like!
ich wünschte, ich wäre nie Drag Queen gewesen
nie Rollen über die Stücke hinaus
nicht überall dieser Versuch eines Menschen
der für die anderen passt
angepasst, Sinn ergibt
dazugehört, doch nie dazugehört
immer veranderst vom außen
verzweifelt von innen
ich wünschte, ich hätte gewusst
warum.


stattdessen Fehlverdachtsdiagnosen, Komorbiditäten
Depression, Panikattacken, Zusammenbrüche
Fachpersonal, das sieht und nicht sieht, nicht sehen will
vermeintliche Mädchen, Frauen sind am ehesten Borderlinerinnen
über diese Borderline blicken wir lieber nicht hinaus
man könnte ja mehr sehen als den eigenen Horizont
wenn es was anderes wäre
das wäre doch schon viel früher aufgefallen
außerdem sind nur kleine cis Jungs betroffen
das verwächst sich
bei Erwachsenen fällt es gar nicht mehr so ins Gewicht
die lernen damit umzugehen
außer die schweren Fälle, naja.


ich frage mich, was schwere Fälle sind
bin ich ein schwerer Fall
nein, sagt der Therapeut
Sie machen das ja gut (ich bezweifle das)
Sie kommen ja zurecht (ich verneine das)
aber Ihr Erleben Ihres Lebens lässt sich klar zuordnen
spektrenartig
Ihre Diagnosen sind uneindeutig eindeutig
wären Sie ein Junge, reichte die Punktzahl nicht aus
doch in Ihrem Fall
herzlichen Glückwunsch
Sie waren hiermit schon immer behindert.


ich höre meine Mutter nie über mich sagen
dass ich behindert bin
mein Kind ist autistisch, sagt sie
und ADHS, beides spätdiagnostiziert
ja im Nachhinein hätte man es wohl schon wissen können
jetzt in Retrospektive
nachher ist man immer schlauer
sie verneint es auch nicht
dass ich behindert bin
doch kommt ihr das Wort in Bezug auf mich
nie über die Lippen.


manchmal lässt mich das fragen
ob ich behindert genug bin
wenn andere den Begriff für mich meiden
finden sie mich eben nicht behindert genug
weil man es nicht sieht
kein Rollstuhl, Hörgerät, Langstock
keine Trisomie und keine Spastik
nur ADHS, nur Autismus.


nur immerzu alle Eindrücke einer ganzen Welt, jede Stimme, jeder Windhauch, jeder winzige Bauchschmerz, jedes Hupen, jeder Abgasgeruch, jedes Vogelzwitschern, jedes Hundegebell, jeder Hundebesitzerin, jeder Geschmack vom letzten Snack, jeder Spritzer Parfüm, den Entgegenkommende tragen, jede kleine Verletzung, bis sie verheilt ist, jede quietschende Zugbremse, jedes summende Insekt, jedes Wasserglitzern, jedes Klimpern meiner Wimpern, wenn sonst alles still ist, jeder nächtliche Schattentanz auf Gehwegplatten, jede duftende Blüte, jede Kleinigkeit, die sich seit dem letzten Mal verändert hat, jeder Sonnenstrahl, jede Gesichtspartie, wo die Sonnenbrille aufliegt, jedes Kleidungsstück, jedes Geräusch dieser Kleidungsstücke, jede Körperstelle, die deine bei unserer Umarmung berührt, jede Emotionswelle.


jedes Gefühl, das in den letzten Stunden präsent war
immerzu als Ahnung unter der Oberfläche
jederzeit bereit hervorzubrechen, weil irgendein Reiz es herausfordert
manchmal Secondhand-Gefühle, die andere fühlen
und mir unter die Haut kriechen, als wäre sie zu dünn
so durchlässig, als wäre Emotionsosmose ein normaler Prozess für sie
und dann fühle ich fremde Trauer, Wut, Angst, Verzweiflung. als wären sie meine eigenen
und weiß nicht, was ich eigentlich selbst fühle.


ich weiß oft nicht, ob ich hungrig bin oder mir zu warm ist
ich finde es meist nur durch Ausprobieren heraus
ich weiß genau und jederzeit, wo meine Socken enden
aber zu oft nicht, ob ich eigentlich was getrunken hab heute.


ich sehe jeden Logikfehler, aber oft nicht die Tasse auf dem Tisch
die seit Tagen in die Spülmaschine gehört
die Rechnungen und Anträge, wochenlang unbearbeitet
bis Mahnungen und Konsequenzen folgen
und die Panik und Scham
weil ich schon wieder versage
mit diesen Dingen, die ich doch können sollte
ich bin doch erwachsen, ich bin doch verantwortlich
ich sollte
müsste
muss
doch
und kann nicht, so oft nicht
Angst vor meiner bloßen Existenz gepaart mit Existenzangst
beende den Tag im Meltdown
weinend in die Matratze schreiend, schlagend
zu viele Reize
zu viele Gefühle
zu viel alles
zu wenig nichts.


Sie sehen gar nicht autistisch aus
mir können Sie jedenfalls gern in die Augen schauen
sagt der Orthopäde
und ich weiß wieder nicht, ob ich froh sein soll
kein Klischee zu sein
ich kann ihm jetzt nicht mehr in die Augen schauen
es ist, als finge ich sonst Feuer
und ich frage mich
wie viel offensichtlicher ich sein sollte
wie viel autistischer ich aussehen müsste
(wie sieht man autistisch aus?)
während ich die Kopfhörer um den Hals habe
nur der Höflichkeit halber abgenommen
obwohl ich auch mit ihnen noch alles höre
die Sonnenbrille im Haar
obwohl die Lampen zu grell sind
ob ich jedes Stimmingtoy vorzeigen müsste
jederzeit meine Diagnose in einem Umschlag dabei
natürlich dürfen Sie die sehen
wir kennen uns nicht
aber natürlich haben Sie alle ein Anrecht darauf
zu bewerten
ob ich eigentlich wirklich und tatsächlich behindert bin
und ob eigentlich behindert genug
wie behindert muss ich sein um behindert zu sein


Menschen mit Behinderungen
sind Menschen
die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben
die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren
an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft
mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.
Definition nach dem Neunten Sozialgesetzbuch (§ 2 Abs. 1 SGB IX)


der Staat findet mich
in Rücksprache mit meinem Therapeuten, meiner Hausärztin und meinem Psychiater
behindert genug.


ich selbst verbleibe in Zweifeln
was, wenn sich alle geirrt haben
was, wenn ich mir das nur einbilde
dass mich Reize schnell überfordern
dass ich keinen Fokus halten kann ohne Hyperfokus
dass ich sehe, was andere nicht sehen
und übersehe, was sie wie selbstverständlich sehen
die autistischen Burnoutzustände – alles Zufall
das ständige Stimming sowieso
erst kurz vor der Deadline irgendwas zustande bringen, völlig normal
aber eben nicht cool.


völlig normal für mich, doch nicht für alle
nicht romantisch,
nur anstrengend, überlastend, potenziell tödlich
autistische Erwachsene mit Lernbehinderung sterben 30 Jahre früher als der Durchschnitt
jene ohne Lernbehinderung leben mit neunmal höherem Risiko an Suizid zu sterben
als die allgemeine Bevölkerung
Menschen mit ADHS haben häufiger Essstörungen, Suchterkrankungen
80% der Autist*innen haben auch ADHS
50% der ADHSler*innen sind autistisch
überdurchschnittlich viele Autist*innen sind noch dazu queer
insbesondere trans, viele auch nichtbinär
weil Normativitäten keinen Logiken folgen
folglich unlogisch für neuroqueere Gehirne
40% aller trans Menschen haben einen Suizidversuch hinter sich.

die Risiken
überschneiden sich
und finden sich
in allgemeiner Diskriminierung, Marginalisierung, Menschenfeindlichkeit
und ständigem Versuch selbst ein klein wenig besser dazustehen
doch nicht so behindert
lieber nicht so queer
wenig Stolz, wenn es so viel abverlangt
Queer Pride Month Juni
Disability Pride Month Juli
feiern soll ich mich
aber nicht vergessen
the first pride was a riot
wir haben nicht aufgehört zu kämpfen
als ob ich das vergessen könnte
wenn ich niemals nicht kämpfe
für meine Zugänglichkeiten, Barrierefreiheiten
keine Pride erreichbar für mich
zu viele Menschen, zu viele Reize
und was, wenn ich nicht queer, nicht nichtbinär, nicht trans genug bin.

aber natürlich kämpfe ich trotzdem, nur für den Fall
schließlich bin ich nicht frei, solange die andern es nicht sind
bin zugleich Unterdrücker*in, solange ich nicht ständig weiter Türen öffne
selbst wenn ich nicht mehr kann
kann mir Schuld zugeschoben werden
ich hätte doch wirklich noch mehr tun können
anderen geht es doch so viel schlechter als mir
und so behindert sehe ich doch schließlich gar nicht aus.


nicht behindert genug in so vieler Augen
zu behindert für die Norm, gesellschaftlich vorgefertigt
was nicht passt, wird schließlich passend gemacht
frag mich, wo ich stattfinden darf
wer mich stattfinden lässt
wenn ich meine Belange benenne
wo muss ich schweigen
um sein zu dürfen
keine Ausnahmen, keine Extrawurst, schon gar nicht veggie
füg dich ein, du kannst es doch, es ging doch über Jahre irgendwie
warum stellst du dich jetzt so an


weil ich müde bin.
weil ich wirklich nicht mehr kann.
dieses Mal wirklich nicht mehr.


man fängt mich ein und auf
versorgt meine Wunden
pflegt meine Seele
streichelt meinen Kopf
hüllt mich ein
Gewichtsdecke schwer auf meinem Körper
Körper neben mir flüstern beruhigend und schweigen
queer disabled community care
fühlen und gefühlt werden
einander halten
aneinander
um einander
für einander
mit einander
weil man versteht
wenn man kennt.


man entwickelt ein neues Verständnis von Zeit
fünfzehn Minuten an manchen Tagen eine Ewigkeit
an anderen ein Wimpernschlag, ein Augenblick
oft beides zugleich
manchmal Tage zu kurz, Sekunden zu lang
sich einfinden
sich zugestehen
endlich, endlich zugestehen.


behindert
behindert, behindert, behindert
ich schreibe es zeilen-, seitenweise
ich streiche es nicht mehr
aber hin und wieder koste ich von ihm
es ist mittlerweile weniger fremd
wenn ich damit über meine Lippen streiche
seinen Geruch in mich aufnehmend
der dem Nichts am ähnlichsten ist
es mir in den Mund lege
manchmal denke ich beinah
es zergeht ein wenig auf der Zunge
es schmeckt inzwischen weniger verloren
noch immer bitter manchmal
doch immer mit süßlicher Ahnung.

oft denke ich
behindert sei gewachsen
und halte es doch immer wieder im Arm wie ein Kind
tröstend, wir beide einander wiegend
vor – zurück – vor – zurück – vor – zurück
bis die Ruhe wieder einkehrt
in meinem Körper, in seinen Buchstaben.

manchmal gehen wir schwimmen
lassen uns treiben
Himmel über uns
und sowas wie Freiheit um uns herum
so berechenbar die Geräusche
so fein die Textur des Wassers
mir scheint jedes Mal
als würde behindert noch tagelang schweben.

hin und wieder fahren wir ans Meer
mal ein warmes, mal ein kaltes
starren Ewigkeiten in unserem Tempo auf die Wellen
wie sie an den Strand schwemmen
fast zärtlich
behindert möchte auch so liebkost werden
also kraule ich seine Lettern
und streiche ihre Anspannung aus.

zuhause schauen wir Naturdokumentationen
über Wale und Oktopoden
oder ich lese behindert Lyrik vor
oder ganze Romane
in einigen kommen wir vor
in den allermeisten nicht
also schreiben wir selbst
behindert schreibt sich.

dann und wann gehen wir tanzen
zerfließen in der Musik
eins miteinander
ich bin da, schreit behindert in den Bass
ich weiß, brülle ich zurück
und am nächsten Morgen bleiben wir lange liegen.

oft sind wir einfach irgendwo draußen
ausgestreckt auf einer Wiese
kitzelndes Gras unter Körper und Buchstabenrundungen
ins unendliche Blau blickend
während meine Hände flattern
und abheben
und wir schauen ihnen nach
bis sie am Horizont verschwunden sind.

Warum ich manchmal schlechte Bücher lese

Manchmal lese ich Bücher, die ich schrecklich finde, die problematische Inhalte vermitteln – und trotzdem kommt es nicht selten vor, dass ich diese Bücher fertiglese. Manchmal hat mich doch irgendwas gehooked in der Geschichte, meistens blicke ich einfach nur besonders tief in diesen Abgrund, wie bei einem Unfall, bei dem man weggucken möchte, aber nicht kann. Diese Bücher geben mir einen Eindruck davon, wie viel noch zu tun ist.

Es kommt, zugegebenermaßen, nicht allzu oft vor, dass ich an solche Bücher gerate, auch wenn garantiert die Mehrzahl der Neuerscheinungen nicht so sensibel ist, wie ich sie mir wünschen würde. Die meisten Bücher, die ich mittlerweile lese, sind ziemlich gut. Ich vertraue den Empfehlungen von Freund*innen und Buchblogger*innen, denen ich auf Social Media folge, entdecke unter den Ankündigungen der Verlage Neues und Interessantes und manchmal auch tatsächlich einfach spontan im Laden oder in der Bibliothek.

Hin und wieder aber mache ich dort einen Fehlgriff oder mir wird ein Buch geschenkt, hinter dessen Sprache und oder Geschichte ich nicht stehen kann. Es sind häufig Bücher, die besonders divers und inklusiv sein wollen, dabei aber grundlegende Regeln beim Schreiben vergessen wurden. Ich stoße auf Bücher mit Repräsentation von behinderten Menschen, wo allem Anschein nach weder Autor*in noch Lektorat sich die Mühe gemacht haben, basic Regeln rund um nichtableistische Sprache zu recherchieren, sondern fröhlich weiter reproduzieren, was seit Jahren kritisiert wird. Oder Bücher mit queeren Personen, die ein Klischee nach dem anderen erfüllen, trans Personen, die komplett unnötig gedeadnamed und misgendert werden usw usw. Ein gravierendes und leider auf dem Buchmarkt ziemlich erfolgreiches Beispiel dafür ist „Mein Bruder heißt Jessica“ von John Boyle über ein trans Mädchen – in dem also schon im Titel gemisgendert wird. Der gesamte Fokus ist auf dem Geschwisterkind aus dessen Perspektive geschrieben wird, all seinen Struggles, ohne dass die Probleme des trans Mädchens wirklich ernstgenommen werden, geschweige denn irgendwie sensibel aufgearbeitet.

Es gibt nach wie vor einfach viel zu viele Bücher, die vor diskriminierender Sprache und Inhalten nur so triefen. Und, klar, wir Autor*innen können nicht alles wissen. Aber: Wir sollten uns weiterbilden, so wie es alle Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten tun sollten, um andere nicht zu diskriminieren und zu verletzen. Gerade wir, die wir mit unseren Worten eben auch Gesellschaft abbilden und gleichzeitig unsere Lesenden mit unserer Sprache und unseren Inhalten prägen, sollten besonders achtsam sein. Und da wir eben nicht alles wissen müssen und können, sollten wir uns Hilfe holen. Genau deshalb gibt es doch Angebote wie Sensitivity Reading und/oder Sensitivity Beratung.

Liebe Autor*innen, nehmt diese Hilfe an. Setzt sie bei euren Verlagen durch. Liebe Verlage, nehmt diese Hilfe an. Bezahlt sie angemessen. Und dann freut euch über bessere Bücher. Es ist am Ende ein Win-Win für alle.

Diskriminierungssensible Erziehung: Mit Kindern über Diskriminierung sprechen (Buchrezension)

Mit Kindern über Diskriminierung sprechen von Olaolu Fajembola und Tebogo Nimindé-Dundadengar, erschienen 2024 im Beltz Verlag, ist ein weiteres Grundlagenwerk für Diskriminierungsbewusstsein, nun eben mit dem sehr wichtigen Fokus auf dem Thema Erziehung. Wie kann man Kindern die Systematik und die Strukturen hinter Diskriminierung bewusst machen, wie kann man betroffene Kinder stärken und schützen und nichtbetroffene Kinder aufklären, das sind die Hauptfragen, denen die Autorinnen gemeinsam mit acht Expert*innen nachgehen.  Neben dem eigenen Themenschwerpunkt Antischwarzer Rassismus und Colorism, zu dem Olaolu Fajembola und Tebogo Nimindé-Dundadengar bereits das Buch „Gib mir mal die Hautfarbe. Mit Kindern über Rassismus sprechen“ (Beltz, 2021) veröffentlicht haben, finden folgende weitere Marginalisierungen Raum: antimuslimischer Rassismus, antiasiatischer Rassismus, Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze, Antisemitismus, Queerness (insbesondere Geschlecht), Dick_Fettfeindlichkeit, Ableismus und Klassismus.

Die beiden Autor*innen schreiben alle Kapitel selbst, beschreiben ihre eigenen Erfahrungen und Unsicherheiten mit den Themen, machen sie dadurch nahbarer und zeigen deutlich: Wir alle haben diskriminierendes Verhalten verinnerlicht, wir alle müssen dazulernen. Diese Position so offen zu zeigen, ist eine der großen Stärken dieses Buchs. Was die Autor*innen selbst verstanden und gelernt haben, fassen sie in den Kapiteln zusammen, immer gestützt von Zitaten und Erzählungen der Expert*innen, die alle selbst Angehörige der jeweiligen marginalisierten Gruppe sind.

Für mich selbst das mit Abstand aufschlussreichste und lehrreichste Kapitel was das Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze. Zu allen anderen Themen hatte ich vorher auf unterschiedliche Art und Weise schon vieles dazulernen können, weil es schon deutlich mehr Material und auch insgesamt an vielen Stellen mehr Sichtbarkeit gibt (und ich bin ziemlich sicher, nicht nur in meiner Bubble ist das so). Ganz ehrlich, allein für dieses Kapitel sollte man in meinen Augen dieses Buch lesen – auch wenn alle anderen Kapitel ebenfalls sehr interessant und je nach Vorbildung sicherlich auch enorm lehrreich sind.

Bei den Themen, die mich selbst betreffen und für die ich selbst Expert*in bin, war ich naturgemäß am Kritischsten beim Lesen – und habe tatsächlich kleinere Anmerkungen, aber eben auch nur das. Beim Kapitel zu Ableismus (also Diskriminierung gegen behinderte und/oder chronisch kranke Menschen) hätte ich mich gefreut, wenn es eine Einordnung von Behinderung gegeben hätte. Ableismus wird definiert, nicht aber Behinderung selbst, das fand ich einigermaßen irritierend. Es wäre gut gewesen, zu besprechen, dass manche Behinderungen nicht auf den ersten Blick sichtbar sind, dass es auch neurologische Behinderungen gibt, nicht nur körperliche, psychische und Lernbehinderungen gibt. Beim Kapitel zu Geschlecht fiel mir auf, dass Schreibweisen nicht einheitlich waren, inhaltlich aber auch da viel Gutes und Hilfreiches dabei.

Sowohl Eltern, wie auch Erzieher*innen, Lehrkräften und anderen Pädagog*inen kann ich dieses Buch wirklich sehr empfehlen. Es wird Vorurteile bei euch anfangen abzubauen, es wird euch helfen, Diskriminierung mit weniger Unsicherheiten mit euren Kindern zu besprechen und trägt damit zu einer Welt mit insgesamt weniger Diskriminierung bei.

Danke an den Beltz Verlag für das Rezensionsexemplar.

Verliebt in Einfache(r) Sprache

Marlene und das Kribbeln im Bauch ist ein Jugendbuch in Einfacher Sprache für Menschen mit und ohne Behinderung. Darin lernt Marlene bei einer Party in der inklusiven Disko Mika kennen. Sie tanzen den ganzen Abend zusammen und in Marlenes Bauch ist auf einmal so ein Kribbeln.

Das Buch von Agnes Schruf erzählt, wie Marlene sich zum ersten Mal verliebt. Die Lesenden begleiten sie über eine Woche bei allen Gefühlen, die Marlene erlebt, schön und detailliert illustriert von Malou Großklaus.

Im Großen und Ganzen hat mir das Buch sehr gut gefallen, auch weil ich es wichtig finde, dass es Bücher in einfacher Sprache für unterschiedliche Altersstufen gibt.

Zwei Kritikpunkte habe ich dennoch (für den ersten Absatz CN Erwähnung sexualisierte Gewalt, im Buch passiert aber keine):

***

Gerade Frauen mit Behinderung erleben überdurchschnittlich oft sexualisierte Gewalt. In Büchern wie diesem wäre es leicht, die Wichtigkeit von Konsens unterzubringen, statt dass sich, wie hier, einfach geküsst wird. Es hätte Kommunikation dazu stattfinden können, ob man geküsst werden möchte, und vorher vielleicht auch Gespräche mit Familie oder der Integrationskraft geben können.

Aufgrund der anhaltenden Kritik durch behinderte Aktivist*innen am sogenannten Schwer-in-Ordnung-Ausweis finde ich das Vorkommen desselben im Buch nicht ideal, und mag daher in dieser Rezension auf die Kritik daran hinweisen.

Insgesamt aber ein schönes Buch, das viele Leser*innen verdient und das ich gerne gelesen habe. Danke daher an Malou Großklaus für das Rezensionsexemplar.

Über das Gefühl spät dran zu sein

Ich bin spät dran. ADHS ist diesmal unschuldig, ich bin nicht wirklich spät dran (oder?). Nicht physisch spät dran. Ich fühle mich spät dran.

Gefühlt sind alle andern früher dran. Ich sehe die U20-Meister*innen im Poetry Slam, die schon mit neunzehn einen so ausgefeilten Stil haben, dass ich nur staunen kann. Ich sehe Autor*innen, die mit Ende zwanzig schon mehrere Romane veröffentlicht haben und über die nun große Zeitungen berichten, ich sehe die ersten Ausschreibungen für „Jungautor*innen“, für die ich zu alt geworden bin. Ich sehe wie Menschen, deren Schreibstil und Attitude ich tief bewundere, Preise einheimsen, für die ich auch überlegt hatte was einzuschicken und mir dann im Folgejahr bei der nächsten Ausschreibung denke: kannst du vergessen. Du bist nicht gut genug, du bist nicht so versiert, talentiert, erfahren genug.

Ich bin dreißig und ich finde Dreißigsein eigentlich bisher wirklich okay. Und trotzdem hab ich in dieser Literatur(performance)branche das Gefühl, nicht früh genug bereit gewesen zu sein.

Mit siebzehn fehlte der Slam vor Ort, um barrierefrei anfangen zu können, mit einundzwanzig fehlten aus Gründen die Worte und schließlich der Mut, Schreiben wieder für mich zu entdecken, mit sechsundzwanzig kam es langsam zurück und ich fand den Einstieg. Ich hab in der Zwischenzeit und seitdem studiert, versucht zu promovieren, einen autistischen Burnout ausgeheilt, mich selbstständig gemacht, ein Kind bekommen. Ich hab immer weiter geschrieben, seit ich meine Worte wieder habe, ich verdiene Geld mit unter anderem dem Schreiben und Performen, ich hab auch während der Schwangerschaft jeden Tag geschrieben und tue es immer noch.

Und trotzdem fühlt es sich zu spät an.

Ich könnte so viel etablierter sein, sagt das kapitalistische Drecksschwein in mir, das ich natürlich in diesem System nicht so unterdrücken kann, nicht so loswerden kann, wie ich gerne würde. Ich könnte so viel besser, so viel weiter sein.

Dabei war es ja nicht ohne Grund so, dass ich nicht schreiben konnte für ein paar Jahre. Nach einem Todesfall fehlten mir die Worte. Und den Mut wiederzufinden, doch wieder nach Worten zu suchen, während man von einer schwierigen Zeit in die nächste gerät, ist so, so schwer. Und ich will mir sagen, dass es okay ist, erst mal klarzukommen, dass es doch auch ganz gut ist, dass ich mir erst dann versuche einen Namen zu machen, wenn es auch der Name ist, den ich tragen möchte. Und absurderweise gilt man ja mit einem Debüt unter vierzig trotzdem noch als jung.

Das passt alles nicht zusammen und ich glaube auch deshalb bleiben die Gedanken, Sorgen, Ängste im Kopf. Ich hoffe (und es fühlt sich oft vergeblich an), dass sich Dinge ändern könnten. Dass es irgendwann mehr Residenzen für Künstler*innen mit Kind(ern) gibt. Dass es sowieso irgendwann (und hoffentlich bald) mehr Stipendien gibt, die barrierefrei(er) sind. Oder halt einfach ein staatliches, bedingungsloses Grundeinkommen.

Ich hab keine Lösung in mir für dieses Gefühl zu spät dran zu sein. Vielleicht hat jemand von euch Gedanken, ich freu mich von euch zu hören. Oder vielleicht geht es anderen ähnlich und vielleicht hilft es, zu wissen, dass ihr nicht allein seid damit.

Ein Glück – ein neuer Katzenkrimi!

Verlagsbeschreibung:

Als ihr Gefährte Kater Watson von einem verschwundenen Straßenkätzchen erzählt, ist Katzendetektivin Miez Marple überzeugt, dass der kleine Streuner schnell wieder auftauchen wird. Doch sie wird eines Besseren belehrt. Denn hinter dem Verschwinden des Kätzchens verbirgt sich ein Fall, der sogar ihr das Fell zu Berge stehen lässt. Miez Marple, Watson und die Taube Betti nehmen die Ermittlungen auf. Dabei stoßen sie auf eine mysteriöse Mordserie und wohnen düsteren Treffen auf Friedhöfen bei. Doch Miez Marple und ihr Team sind fest entschlossen, den Fall zu lösen und dem Bösen ihre flauschige Stirn zu bieten.

Rezension

Miez Marple ermittelt wieder – und das ist ein Glück! Einerseits für die Katzenwelt, wer würde sonst kleine Kätzchen retten, Morde aufklären und verhindern und vor allem: wer würde fabelhafte Gedichte schreiben? Andererseits ist es aber eben auch ein großes Glück für uns, weil wir Miez und ihren Freund Watson bei den Ermittlungen lesend begleiten dürfen. Losgelöst von den Abenteuern des ersten Bandes beschreibt Fabian Navarro mit viel Katzenwortwitz und -spiel die Machenschaften der Bösen, den Zusammenhalt von Miez und ihren Freund*innen und das Treiben der tierischen Medienanstalten. Großartig wieder: die Namenswahl der Figuren. Mit stetem Bezug zu real existenten lebenden oder toten Personen findet der Autor jedes nur mögliche tierische Wortspiel. Während die Menschenwelt im Buch nur eine kleine Nebenrolle spielt, finden sich in dieser kätzischen Realität viele Bezüge zu politischen und sozialen Missständen und Ereignissen unserer Welt, genial verwoben durch Wollfäden ziehende Pfoten (als ob Fabsens Katzen ihre Krallen da nicht im Spiel hatten).

Fazit: ein Krimi, der selbst mir als Katzen- aber nicht Krimifan großen Spaß macht und den ich nur empfehlen kann.

Ich warte: auf Miez Marples Lyrikband. Das waren auch echt zu wenige Gedichte in diesem Krimi.

Ich frage mich: Wie würde man Katzen entgendern? Katzen*Kater? Sind Kater einfach mitgemeint? Fragen über Fragen…

*** Danke an den Goldmann Verlag für das Rezensionsexemplar ***

Über Vielfalt

Vielfalt, die. Substantiv, feminin.

Bedeutung: Fülle von verschiedenen Arten, Formen o. Ä., in denen etwas Bestimmtes vorhanden ist, vorkommt, sich manifestiert; große Mannigfaltigkeit[1]

Vielfalt, sobald sie sich auf die Gesellschaft bezieht, wird vieldiskutiert, obwohl es eigentlich nicht so viel zu diskutieren gibt. Sie ist alltäglich, alles umfassend und überall zu finden, weil Vielfalt so vieles miteinschließt. Vielfalt in ihrer Vielfalt lässt sich kaum definieren, eben weil so vieles dazugehört, weil wir alle dazugehören. Dass sie so sehr diskutiert, teils verneint oder verweigert wird, liegt oft an Nichtwissen, Nichtkennen und manchmal an schlichter Ignoranz. Das Gute ist: Lernen ist möglich.

Gestern, am 11.12.2023 ist Vielfalt – das andere Wörterbuch im Duden Verlag erschienen und sorgt für eine weitere Möglichkeit, Vielfalt kennenzulernen, zu verstehen und für sie sensibilisiert zu werden. 100 Begriffe werden in 100 Beträgen von 100 Menschen erklärt, die allesamt persönlichen und/oder beruflichen Bezug zu ihren Themen haben. Neben offensichtlicheren Vielfaltsthemen wie Behinderung, Rassismus, Klassismus und Queerness finden auch Themen wie Demokratie, Medienvielfalt und Sport ihren Raum. Und natürlich: 100 Begriffe erklären nicht die gesamte Vielfalt. Aber es ist ein Anfang. Ein erster Versuch, eine Annäherung.

Neben 99 anderen Autor*innen darf auch ich in diesem Buch stehen, das Sebastian Pertsch so großartig kuratiert und herausgegeben hat. Mein Thema, Heteronormativität, erkläre ich auf meinen beiden Seiten so knapp wie nötig, so persönlich wie möglich, ohne dass es den Sachbuchcharakter verliert. Alle weiteren Themen, in die ich reingelesen habe, lesen sich absolut fantastisch, interessant und klug geschrieben, und ich wünsche diesem Buch und uns allen und auch der Vielfalt selbst so viele Leser*innen wie möglich.


[1] Quelle: https://www.duden.de/rechtschreibung/Vielfalt (Zugriff 12.12.2023)

Hoffnung, die leuchtet und berührt

In Hoffnung, die leuchtet, verarbeitet Jasmin Sturm alias Farbflausen in 24 Texten und Illustrationen ihre Gedanken zu Licht, Schatten und dem Dazwischen. Die Texte variieren zwischen Lyrik und Prosa, sind oft sehr persönlich und laden zum Mitfühlen ein. Da geht es um das Leben mit Kindern und ihre Fragen, um die Gesellschaft und ihre (Vor)Urteile, um Krankheit und Behinderung, um Resilienz und wo sie wohnt, um Hoffnungslosigkeit und die leisen und lauten Töne der Verzweiflung, die manchmal in uns mitschwingt.

So sehr ich mich in einigen Gedichten wiederfand, was mich durchweg am meisten berührt hat, waren die Illustrationen. Jasmin Sturm hat eine Art zu bebildern, die mich erreicht, klare, deutliche Farben und Gestaltung, vielfältige Figuren und ruhig, nicht aufwühlend in der Wirkung. Mein wohl liebster Moment im Buch sind zwei Doppelseiten, in denen es ums Aushalten geht, ums damit allein fühlen und dann nicht damit allein sein. So sehr mich hier auch die Worte berühren, es ist die Bildebene, die mich noch tiefer bewegt.

Dank Jasmin für das Rezensionsexemplar. Liebe Leser*innen, das ist nun unbezahlte Werbung, aber schaut euch doch mal in Jasmins Shop um, alle Bücher, Büchlein, Postkarten und und und sind ganz wunderschön.

Lyrik zwischen Softness und queerfeministischer Radikalität

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist Fluide-2-768x1024.jpg

Fluide, Sovia Szymulas Gedichtbandit*in, empfängt und umschmiegt einen fortan während des Lesens mit dessen queerer Radikalität. Erschienen 2022 im Brimborium Verlag, wechselt es zwischen poetischer Softness und unaufhaltsamer Wut, Liebe für FLINTA* Personen und Hass auf das Patriarchat und alle, die es so bewusst stützen und schützen.

Die Gedichte selbst sind zumeist auf Deutsch geschrieben, manche auf Englisch, leider ohne Übersetzungen, was für einige Leser*innen die Zugänglichkeit erschwert. Ihre Länge, mal nur wenige Zeilen, mal über zwei Seiten wiederum macht Raum auf, um zu fühlen, mal eben nur durch wenige Worte, mal sich fast erschlagen fühlen durch die viele Energie, aber froh sein, dass man das fühlen darf und kann. Sie lesen sich oft wie gesprochen, enthalten Umgangssprache, queere Sprache, feministische Sprache, man merkt im Lesen den Rap- und Spoken-Word-Hintergrund des*der Autor*in als Lila Sovia.

Sovia Szymulas Lyrik ist stark, verletzlich, wütend, soft, laut, leise, empowernd, unendlich queer und feministisch. Es ist kein(*e) Gedichtband(it*in) zum einfach Weglesen, stattdessen zum Fühlen und Radikalisieren lassen.

Danke an den Brimborium Verlag für das Rezensionsexemplar.

Linus liebt Licht – und ich liebe Linus

Linus liebt Licht ist ein Pappbilderbuch ab 2 Jahren, das von einem autistischen Kind erzählt. Es wird beschrieben, was dieses Kind, Linus, glücklich macht, was ihn überfordert, was ihn fasziniert und beruhigt. Jede Seite ist mit wunderschönen Bildern illustriert, die eine klare Bildsprache haben, nicht überladen sind und ohne Verwendung greller Farben auskommen. Was außerdem positiv auffällt, ist die unaufgeregte Diversität der Figuren im Hintergrund der Bilder. Am Ende des Buchs werden schließlich zuerst die Kinder, dann die erwachsenen Leser*innen angesprochen. Ihnen wird erklärt, was es mit Linus und mit Autismus auf sich hat und wieso sich autistische Kinder oder auch Erwachsene auf die eine oder andere Weise verhalten. Es wird außerdem erklärt was Stimming ist („selbst-regulierendes oder selbst-stimulierendes Verhalten“), weil alle Tätigkeiten, die im Buch beschrieben werden, Stimming sein können.

Alles in allem merkt man dem Buch an, dass es ein Herzensprojekt aller Beteiligten ist. Die Autorin Anna Mendel und die Illustratorin Jasmin Sturm sind beide Mütter eines autistischen Kindes und bringen ihre Perspektiven mit in die Geschichte. Da es aber nicht ihrem eigenen Erleben entspricht, da sie selbst nicht autistisch sind, gab es auch ein diskriminierungssensibles Lektorat.

Als Autist*in, die*r erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wurde, habe ich dieses Buch mehr als gerne gelesen, mehrfach hindurch geblättert, die Bilder bewundert und mir gewünscht, es hätte schon in meiner Kindheit ein solches Buch gegeben. Ich habe mich wiedererkannt in den Zeichnungen und der Erzählung und alles sehr nachgespürt, über mein eigenes Stimming nachgedacht und wie schön es ist, dass manches ganz unterschiedlich und anderes ganz ähnlich ist wie bei Linus. Mir persönlich hätten es noch ein oder zwei Seiten Bilderbuch mehr sein dürfen, bevor die Erklärungen für nicht-autistische Menschen anfangen, aber das werden alle unterschiedlich empfinden.
Was für mich tatsächlich etwas herausfordernd war, war der fehlende Übergang zur letzten Doppelseite und dass diese insgesamt sehr voll ist mit Informationen. Nach einem visuell sehr beruhigenden Bilderbuchteil war das für mich ein doller Bruch.

Trotzdem: Linus liebt Licht füllt eine Lücke in der Bilderbuchwelt, das steht für mich absolut fest. Ich wünsche mir mehr solcher positiven Bücher über Autist*innen, groß wie klein und mit Protagonist*innen vieler Geschlechter und Hintergründe. Von mir gibt es 5* für Linus liebt Licht, das, so glaube ich, ich allen Familien (autistisch oder nicht) gut gefallen und auch in Kindergärten gut ankommen wird. Insbesondere möchte ich das Buch aber autistischen Kindern und Erwachsenen ans Herz legen: es tut so gut sich wiederzuerkennen.