Über das Gefühl spät dran zu sein

Ich bin spät dran. ADHS ist diesmal unschuldig, ich bin nicht wirklich spät dran (oder?). Nicht physisch spät dran. Ich fühle mich spät dran.

Gefühlt sind alle andern früher dran. Ich sehe die U20-Meister*innen im Poetry Slam, die schon mit neunzehn einen so ausgefeilten Stil haben, dass ich nur staunen kann. Ich sehe Autor*innen, die mit Ende zwanzig schon mehrere Romane veröffentlicht haben und über die nun große Zeitungen berichten, ich sehe die ersten Ausschreibungen für „Jungautor*innen“, für die ich zu alt geworden bin. Ich sehe wie Menschen, deren Schreibstil und Attitude ich tief bewundere, Preise einheimsen, für die ich auch überlegt hatte was einzuschicken und mir dann im Folgejahr bei der nächsten Ausschreibung denke: kannst du vergessen. Du bist nicht gut genug, du bist nicht so versiert, talentiert, erfahren genug.

Ich bin dreißig und ich finde Dreißigsein eigentlich bisher wirklich okay. Und trotzdem hab ich in dieser Literatur(performance)branche das Gefühl, nicht früh genug bereit gewesen zu sein.

Mit siebzehn fehlte der Slam vor Ort, um barrierefrei anfangen zu können, mit einundzwanzig fehlten aus Gründen die Worte und schließlich der Mut, Schreiben wieder für mich zu entdecken, mit sechsundzwanzig kam es langsam zurück und ich fand den Einstieg. Ich hab in der Zwischenzeit und seitdem studiert, versucht zu promovieren, einen autistischen Burnout ausgeheilt, mich selbstständig gemacht, ein Kind bekommen. Ich hab immer weiter geschrieben, seit ich meine Worte wieder habe, ich verdiene Geld mit unter anderem dem Schreiben und Performen, ich hab auch während der Schwangerschaft jeden Tag geschrieben und tue es immer noch.

Und trotzdem fühlt es sich zu spät an.

Ich könnte so viel etablierter sein, sagt das kapitalistische Drecksschwein in mir, das ich natürlich in diesem System nicht so unterdrücken kann, nicht so loswerden kann, wie ich gerne würde. Ich könnte so viel besser, so viel weiter sein.

Dabei war es ja nicht ohne Grund so, dass ich nicht schreiben konnte für ein paar Jahre. Nach einem Todesfall fehlten mir die Worte. Und den Mut wiederzufinden, doch wieder nach Worten zu suchen, während man von einer schwierigen Zeit in die nächste gerät, ist so, so schwer. Und ich will mir sagen, dass es okay ist, erst mal klarzukommen, dass es doch auch ganz gut ist, dass ich mir erst dann versuche einen Namen zu machen, wenn es auch der Name ist, den ich tragen möchte. Und absurderweise gilt man ja mit einem Debüt unter vierzig trotzdem noch als jung.

Das passt alles nicht zusammen und ich glaube auch deshalb bleiben die Gedanken, Sorgen, Ängste im Kopf. Ich hoffe (und es fühlt sich oft vergeblich an), dass sich Dinge ändern könnten. Dass es irgendwann mehr Residenzen für Künstler*innen mit Kind(ern) gibt. Dass es sowieso irgendwann (und hoffentlich bald) mehr Stipendien gibt, die barrierefrei(er) sind. Oder halt einfach ein staatliches, bedingungsloses Grundeinkommen.

Ich hab keine Lösung in mir für dieses Gefühl zu spät dran zu sein. Vielleicht hat jemand von euch Gedanken, ich freu mich von euch zu hören. Oder vielleicht geht es anderen ähnlich und vielleicht hilft es, zu wissen, dass ihr nicht allein seid damit.

Ein Glück – ein neuer Katzenkrimi!

Verlagsbeschreibung:

Als ihr Gefährte Kater Watson von einem verschwundenen Straßenkätzchen erzählt, ist Katzendetektivin Miez Marple überzeugt, dass der kleine Streuner schnell wieder auftauchen wird. Doch sie wird eines Besseren belehrt. Denn hinter dem Verschwinden des Kätzchens verbirgt sich ein Fall, der sogar ihr das Fell zu Berge stehen lässt. Miez Marple, Watson und die Taube Betti nehmen die Ermittlungen auf. Dabei stoßen sie auf eine mysteriöse Mordserie und wohnen düsteren Treffen auf Friedhöfen bei. Doch Miez Marple und ihr Team sind fest entschlossen, den Fall zu lösen und dem Bösen ihre flauschige Stirn zu bieten.

Rezension

Miez Marple ermittelt wieder – und das ist ein Glück! Einerseits für die Katzenwelt, wer würde sonst kleine Kätzchen retten, Morde aufklären und verhindern und vor allem: wer würde fabelhafte Gedichte schreiben? Andererseits ist es aber eben auch ein großes Glück für uns, weil wir Miez und ihren Freund Watson bei den Ermittlungen lesend begleiten dürfen. Losgelöst von den Abenteuern des ersten Bandes beschreibt Fabian Navarro mit viel Katzenwortwitz und -spiel die Machenschaften der Bösen, den Zusammenhalt von Miez und ihren Freund*innen und das Treiben der tierischen Medienanstalten. Großartig wieder: die Namenswahl der Figuren. Mit stetem Bezug zu real existenten lebenden oder toten Personen findet der Autor jedes nur mögliche tierische Wortspiel. Während die Menschenwelt im Buch nur eine kleine Nebenrolle spielt, finden sich in dieser kätzischen Realität viele Bezüge zu politischen und sozialen Missständen und Ereignissen unserer Welt, genial verwoben durch Wollfäden ziehende Pfoten (als ob Fabsens Katzen ihre Krallen da nicht im Spiel hatten).

Fazit: ein Krimi, der selbst mir als Katzen- aber nicht Krimifan großen Spaß macht und den ich nur empfehlen kann.

Ich warte: auf Miez Marples Lyrikband. Das waren auch echt zu wenige Gedichte in diesem Krimi.

Ich frage mich: Wie würde man Katzen entgendern? Katzen*Kater? Sind Kater einfach mitgemeint? Fragen über Fragen…

*** Danke an den Goldmann Verlag für das Rezensionsexemplar ***

Über Vielfalt

Vielfalt, die. Substantiv, feminin.

Bedeutung: Fülle von verschiedenen Arten, Formen o. Ä., in denen etwas Bestimmtes vorhanden ist, vorkommt, sich manifestiert; große Mannigfaltigkeit[1]

Vielfalt, sobald sie sich auf die Gesellschaft bezieht, wird vieldiskutiert, obwohl es eigentlich nicht so viel zu diskutieren gibt. Sie ist alltäglich, alles umfassend und überall zu finden, weil Vielfalt so vieles miteinschließt. Vielfalt in ihrer Vielfalt lässt sich kaum definieren, eben weil so vieles dazugehört, weil wir alle dazugehören. Dass sie so sehr diskutiert, teils verneint oder verweigert wird, liegt oft an Nichtwissen, Nichtkennen und manchmal an schlichter Ignoranz. Das Gute ist: Lernen ist möglich.

Gestern, am 11.12.2023 ist Vielfalt – das andere Wörterbuch im Duden Verlag erschienen und sorgt für eine weitere Möglichkeit, Vielfalt kennenzulernen, zu verstehen und für sie sensibilisiert zu werden. 100 Begriffe werden in 100 Beträgen von 100 Menschen erklärt, die allesamt persönlichen und/oder beruflichen Bezug zu ihren Themen haben. Neben offensichtlicheren Vielfaltsthemen wie Behinderung, Rassismus, Klassismus und Queerness finden auch Themen wie Demokratie, Medienvielfalt und Sport ihren Raum. Und natürlich: 100 Begriffe erklären nicht die gesamte Vielfalt. Aber es ist ein Anfang. Ein erster Versuch, eine Annäherung.

Neben 99 anderen Autor*innen darf auch ich in diesem Buch stehen, das Sebastian Pertsch so großartig kuratiert und herausgegeben hat. Mein Thema, Heteronormativität, erkläre ich auf meinen beiden Seiten so knapp wie nötig, so persönlich wie möglich, ohne dass es den Sachbuchcharakter verliert. Alle weiteren Themen, in die ich reingelesen habe, lesen sich absolut fantastisch, interessant und klug geschrieben, und ich wünsche diesem Buch und uns allen und auch der Vielfalt selbst so viele Leser*innen wie möglich.


[1] Quelle: https://www.duden.de/rechtschreibung/Vielfalt (Zugriff 12.12.2023)

Hoffnung, die leuchtet und berührt

In Hoffnung, die leuchtet, verarbeitet Jasmin Sturm alias Farbflausen in 24 Texten und Illustrationen ihre Gedanken zu Licht, Schatten und dem Dazwischen. Die Texte variieren zwischen Lyrik und Prosa, sind oft sehr persönlich und laden zum Mitfühlen ein. Da geht es um das Leben mit Kindern und ihre Fragen, um die Gesellschaft und ihre (Vor)Urteile, um Krankheit und Behinderung, um Resilienz und wo sie wohnt, um Hoffnungslosigkeit und die leisen und lauten Töne der Verzweiflung, die manchmal in uns mitschwingt.

So sehr ich mich in einigen Gedichten wiederfand, was mich durchweg am meisten berührt hat, waren die Illustrationen. Jasmin Sturm hat eine Art zu bebildern, die mich erreicht, klare, deutliche Farben und Gestaltung, vielfältige Figuren und ruhig, nicht aufwühlend in der Wirkung. Mein wohl liebster Moment im Buch sind zwei Doppelseiten, in denen es ums Aushalten geht, ums damit allein fühlen und dann nicht damit allein sein. So sehr mich hier auch die Worte berühren, es ist die Bildebene, die mich noch tiefer bewegt.

Dank Jasmin für das Rezensionsexemplar. Liebe Leser*innen, das ist nun unbezahlte Werbung, aber schaut euch doch mal in Jasmins Shop um, alle Bücher, Büchlein, Postkarten und und und sind ganz wunderschön.

Lyrik zwischen Softness und queerfeministischer Radikalität

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Fluide, Sovia Szymulas Gedichtbandit*in, empfängt und umschmiegt einen fortan während des Lesens mit dessen queerer Radikalität. Erschienen 2022 im Brimborium Verlag, wechselt es zwischen poetischer Softness und unaufhaltsamer Wut, Liebe für FLINTA* Personen und Hass auf das Patriarchat und alle, die es so bewusst stützen und schützen.

Die Gedichte selbst sind zumeist auf Deutsch geschrieben, manche auf Englisch, leider ohne Übersetzungen, was für einige Leser*innen die Zugänglichkeit erschwert. Ihre Länge, mal nur wenige Zeilen, mal über zwei Seiten wiederum macht Raum auf, um zu fühlen, mal eben nur durch wenige Worte, mal sich fast erschlagen fühlen durch die viele Energie, aber froh sein, dass man das fühlen darf und kann. Sie lesen sich oft wie gesprochen, enthalten Umgangssprache, queere Sprache, feministische Sprache, man merkt im Lesen den Rap- und Spoken-Word-Hintergrund des*der Autor*in als Lila Sovia.

Sovia Szymulas Lyrik ist stark, verletzlich, wütend, soft, laut, leise, empowernd, unendlich queer und feministisch. Es ist kein(*e) Gedichtband(it*in) zum einfach Weglesen, stattdessen zum Fühlen und Radikalisieren lassen.

Danke an den Brimborium Verlag für das Rezensionsexemplar.

Linus liebt Licht – und ich liebe Linus

Linus liebt Licht ist ein Pappbilderbuch ab 2 Jahren, das von einem autistischen Kind erzählt. Es wird beschrieben, was dieses Kind, Linus, glücklich macht, was ihn überfordert, was ihn fasziniert und beruhigt. Jede Seite ist mit wunderschönen Bildern illustriert, die eine klare Bildsprache haben, nicht überladen sind und ohne Verwendung greller Farben auskommen. Was außerdem positiv auffällt, ist die unaufgeregte Diversität der Figuren im Hintergrund der Bilder. Am Ende des Buchs werden schließlich zuerst die Kinder, dann die erwachsenen Leser*innen angesprochen. Ihnen wird erklärt, was es mit Linus und mit Autismus auf sich hat und wieso sich autistische Kinder oder auch Erwachsene auf die eine oder andere Weise verhalten. Es wird außerdem erklärt was Stimming ist („selbst-regulierendes oder selbst-stimulierendes Verhalten“), weil alle Tätigkeiten, die im Buch beschrieben werden, Stimming sein können.

Alles in allem merkt man dem Buch an, dass es ein Herzensprojekt aller Beteiligten ist. Die Autorin Anna Mendel und die Illustratorin Jasmin Sturm sind beide Mütter eines autistischen Kindes und bringen ihre Perspektiven mit in die Geschichte. Da es aber nicht ihrem eigenen Erleben entspricht, da sie selbst nicht autistisch sind, gab es auch ein diskriminierungssensibles Lektorat.

Als Autist*in, die*r erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wurde, habe ich dieses Buch mehr als gerne gelesen, mehrfach hindurch geblättert, die Bilder bewundert und mir gewünscht, es hätte schon in meiner Kindheit ein solches Buch gegeben. Ich habe mich wiedererkannt in den Zeichnungen und der Erzählung und alles sehr nachgespürt, über mein eigenes Stimming nachgedacht und wie schön es ist, dass manches ganz unterschiedlich und anderes ganz ähnlich ist wie bei Linus. Mir persönlich hätten es noch ein oder zwei Seiten Bilderbuch mehr sein dürfen, bevor die Erklärungen für nicht-autistische Menschen anfangen, aber das werden alle unterschiedlich empfinden.
Was für mich tatsächlich etwas herausfordernd war, war der fehlende Übergang zur letzten Doppelseite und dass diese insgesamt sehr voll ist mit Informationen. Nach einem visuell sehr beruhigenden Bilderbuchteil war das für mich ein doller Bruch.

Trotzdem: Linus liebt Licht füllt eine Lücke in der Bilderbuchwelt, das steht für mich absolut fest. Ich wünsche mir mehr solcher positiven Bücher über Autist*innen, groß wie klein und mit Protagonist*innen vieler Geschlechter und Hintergründe. Von mir gibt es 5* für Linus liebt Licht, das, so glaube ich, ich allen Familien (autistisch oder nicht) gut gefallen und auch in Kindergärten gut ankommen wird. Insbesondere möchte ich das Buch aber autistischen Kindern und Erwachsenen ans Herz legen: es tut so gut sich wiederzuerkennen.

Zugänge zu Lyrik

Ich schreibe schon wirklich lange Lyrik. Am Anfang plakative Herz-Schmerz-, Haus-Maus-Reime, einfache Reimschemata, irgendwann so komplizierte Reimschemata wie ich nur überblicken konnte bis hin zu die Reime einfach ganz weglassen oder mitten im Vers einbauen. Ich bin an und mit Lyrik schreiben gewachsen, habe schreiberisch dazugelernt, aber auch in dem, was ich ausdrücken konnte in und zwischen den Versen. Und bis heute schreibe ich gerne Lyrik, regelmäßig, mal nur wenige Zeilen, mal ein ganzes Stück für die Bühne.

Aber: Ich lese noch nicht lange gerne Lyrik. Mein Zugang zu Lyrik war lange Zeit das, was an Gedichten in der Schule vorgesetzt wird: Goethe, Schiller, Eichendorff. In der Mittelstufe vielleicht noch Annette von Droste-Hülshoff. Und wenig davon, von diesen zumeist eben männlichen, weißen, cis-hetero Dichter*innen las ich gern. Diese Lyrik las sich oft verstaubt, berührte mich kaum, und eigentlich ist es ein Wunder, dass ich trotzdem den Zugang hatte, Lyrik zu schreiben und mich darin so frei zu bewegen.

Es brauchte schließlich Lyrik von Menschen, die mir ähnlicher waren, oder die Perspektiven hatten, die ich kennenlernen wollte, die experimentell mit ihren Worten und Versen waren, die mich endlich auch beim Lesen fühlen ließen. Ich las, verschlang geradezu Lyrik von Rupi Kaur, Mascha Kaléko, Audre Lorde, May Ayim, Volha Hapeyeva, Kae Tempest, Warsan Shire, Sirka Elspaß und von fremden Menschen auf Twitter, sah sie auf Bühnen performt von Jule Weber, Miedya Mahmod, Lisa Brück, Jana Goller. Ich fühlte sie, ich fühlte Lyrik. Ich fand und las Romane, die verdichtet waren, Der Schwarze Flamingo von Dean Atta und Die Sonne, so strahlend und Schwarz von Chantal-Fleur Sandjon und fühlte mich unheimlich, unendlich inspiriert.

Diese Lyrik, diese Kunst dieser Menschen und so vieler mehr lässt mich selbst immer wieder ausprobieren, kann ich vielleicht auch diese Art Metaphern nutzen, wie funktioniert jene Art Gefühligkeit, wie kann ich selbst so schreiben – und wie mache ich dann etwas eigenes draus? Das funktioniert auch immer wieder in einer Schreibgruppe, in der ich bin, sich neues aneignen, einander inspirieren, von einander lernen und (schreiberisch) wachsen. Je mehr ich lese, Lyrik oder nicht, desto mehr schreibe ich wieder und umgekehrt. Ich konsumiere Kunst und Kunst entsteht im weiteren Prozess, ich lasse Kunst entstehen und will gleichzeitig Kunst von anderen sehen, lesen, hören, fühlen.

Mein Weg zur Lyrik war immer gegeben, nicht immer leicht zugänglich, nicht immer inspirierend, irgendwann unaufhaltsam und irgendwann wunderschön. Heute kann ich nicht mehr ohne Lyrikband wegfahren. Ein Roman, ein Sachbuch, ein Lyrikband, ein Notizbuch. Mindestens vier Bücher im Rucksack und immer was zu fühlen dabei.

Über Male Gaze und Sprachen lernen

Gestern war Tag der Europäischen Sprachen, und von denen spreche ich ja nun mehrere und hab festgestellt: hab ich Gedanken zu.

Ich lerne Fremdsprachen, seit ich mich erinnern kann. Ich wollte schon als Kindergartenkind vielsprachig werden, war daraufhin in einem Französischkurs für Kinder, dann folgte die Schule, bilingualer Zweig im Gymnasium und jede Fremdsprache wählen, die möglich war, parallel zum Abi mit Portugiesisch anfangen an der VHS, dann Romanistikstudium, Niederländisch im Nebenfach. Ich hab jede Sprache aufgesogen, die mir in die Finger kam. Nicht jede davon spreche ich fließend, aber ich komm immer mindestens durch in den jeweiligen Ländern.

Seit einiger Zeit allerdings räume ich auf in meinen Sprachen. Ich fing bei Deutsch an, über Englisch, Spanisch, Französisch, Niederländisch. Die Art und Weise, wie ich und die Mehrheit aller nämlich Sprachen lernte, ist männlich geprägt. Das fällt insbesondere bei der Auswahl der Literatur an, die im Kurs gelesen wird. Vor drei Jahren hab ich beispielsweise meine gesamten Oberstufenlektüren analysiert und festgestellt: von 21 Werken war eines von einer Frau geschrieben (Anne ici – Sélima la-bas von Marie Feraud). Dieses und weitere zwei (Huis clos/Geschlossene Gesellschaft von Sartre und Madame Bovary von Flaubert) haben weibliche Hauptfiguren. Und ansonsten in diesen zwei Leistungskurse und zwei Grundkursen? Männer, die für Männer schreiben – und Männer, die das in den Kanon aufnehmen, also bestimmen, was literarisch wertvoll ist und was eben zb im Schulunterricht gelesen werden sollte.

Und versteht mich nicht falsch: da sind mit Sicherheit Werke dabei, die wichtig sind zu besprechen in der Literaturgeschichte. Aber nur weiße cis Männer? Immer noch?

Ich lese mittlerweile so vieles, was ich damals lieber gelesen hätte – Werke von Frauen, trans und/oder nichtbinären Menschen, von BIPoC, von Menschen mit Behinderungen. Jüngstes Beispiel: Gabriel von George Sand, erschienen Mitte des 19. Jahrhunderts, das von einem jungen Adligen erzählt, der erfährt, dass ihm bei Geburt das weibliche Geschlecht zugeordnet wurde, er aber wegen Erbe und Titel als Junge aufgezogen wurde. George Sand selbst lebte je nach Ort mal als Frau, mal als Mann und war – unter männliche Pseudonym – enorm erfolgreich in der Schriftstellerei.

Ich bin froh, dass mittlerweile auch moderne Werke mit Vielfalt im Blick Eingang in den Sprachunterricht finden wie Ich bin Linus von Linus Giese oder Untenrum Frei von Margarete Stokowski. Und gleichzeitig: da geht noch mehr. Der Kanon (und die Lehrpläne an Schulen und Unis) werden immer noch von weißen cis Männern dominiert und das muss sich ändern.

Je mehr vielfältige Literatur gelesen und unterrichtet wird, desto vielfältiger wird auch unsere Sprache. Sensible Sprache wird dadurch prominenter – sensibel für Geschlechter, Behinderung, Rassismus usw. Dadurch kann sensible Sprache weiter normalisiert werden und das eben auch im Sprachunterricht.

Ich räume nun nachträglich auf, lerne Neopronomen und inklusive Ausdrücke und Grammatikformen verschiedener Sprachen und lese eben andere Bücher, andere Perspektiven. Das macht meine Arbeit, wie ich Sensitivity Reading und Lektorat betreiben kann, vielfältiger, weitet meinen Blick und mein Bewusstsein und es macht mich auch einfach glücklich, mich nicht nur auf Deutsch immer sensibler ausdrücken zu können.

Über Stolz und Erschöpfung

Es ist Pridemonth. Eine Zeit um stolz darauf zu sein, wer man ist als queerer Mensch, sich zu feiern, aber auch weiter zu kämpfen für die eigenen Rechte und die anderer queerer Menschen.

Nur: Ich finde stolz sein enorm schwierig.

Fand ich, glaube ich, fast schon immer, aber jetzt gerade kickt es oft sehr rein. Ich schaffe viel. Ich versorge mein Kind, ich pflege Freund*innenschaften, ich mache Haushalt, ich arbeite ehrenamtlich bei Organisationen und bringe mich ein, ich schreibe Anträge, ich mache Instagrambeiträge, ich twittere, ich lese, ich bilde mich fort, ich arbeite an einer Buchübersetzung mit, ich schreibe Beiträge für Bücher, ich schreibe für mich, ich schreibe diesen Blogbeitrag und wahrscheinlich hab ich noch mindestens fünf Sachen vergessen. Ich schaffe verdammt viel. Trotz, manchmal wegen meiner Marginalisierungen. Weil ich trotz weniger Kapazitäten manchmal mehr schaffen muss. Um weiterzukommen. Um zu wachsen. Um zu kämpfen. Um zu überleben.

Und oft bin ich gerade so erschöpft, so erschöpft vom ständigen Kämpfen, vom schieren Überleben in dieser queer-, trans- und behindertenfeindlichen Welt, dass es schwerfällt, jetzt auch noch stolz zu sein. Dabei hätte ich auf dem Papier doch wirklich allen Grund dazu.

Über Selbstbestimmung während (m)einer Schwangerschaft

Am 17.04.2023 durfte ich als eine von drei Gäst*innen in einem Panel zu selbstbestimmter Schwangerschaft und Geburt sitzen. Zu Beginn haben wir jeweils ein Statement zu unserer Position und unserem Hintergrund verlesen, danach wurde breit diskutiert. Zur Diskussion werde ich voraussichtlich auch noch mehr schreiben, vorerst aber zumindest schon mal mein Statement, das den Verlauf meiner Schwangerschaft, Hindernisse und Glücksfälle dabei thematisiert. Da ich während der Schwangerschaft enorm viel geschrieben habe, gibt es zu Beginn ein Gedicht:

Mutter
auf dir, Wort, auf dir, Mensch, lasten
gewichtig schwer
die alten Erwartungen aller
du sollst, musst, solltest, müsstest
weißt du noch was du willst?

Mutter
ich will nicht du sein

Mutter
dein Wort, dein Sein lastet
gewichtig schwer auf mir
mit Erwartungen aller
mit Meinungen aller
mit Worten aller
ich weiß manchmal nicht was ich will

Mutter
ich will ich sein

Mutter
nicht dein Wort will ich sein
nicht die Erwartungen an dich
ich will mir gerecht werden
und dem Kind dessen Elter
– nicht Mutter –
ich sein werde

Mutter
ich darf ich sein
und du
du darfst es auch

Dass ich nicht Mutter werde, sondern Elter, was eben die Einzahl von Eltern und damit geschlechtsneutral ist, das ist mir von Anfang der Schwangerschaft an klar. An Orten, die mir dafür sicher genug sind, teile ich das. Sicher genug sind: meine Freund*innen, meine Eltern, mein Therapeut, meine Hebammen, irgendwann, als ich soweit war, Twitter und Instagram, aber jeweils mit eingeschränkten Kommentaren, weil es mir doch nicht ganz so sicher ist. Nie sicher genug ist: meine erste Gynäkologin.

Als ich schwanger werde, telefoniere ich mich durch die gynäkologischen Praxen von ganz Bochum, niemand kann mich aufnehmen. Also die Nachbarstadt abklappern und dabei nicht auf Transfreundlichkeit achten können, oder wie der Umgang mit Neurodivergenzen ist, sondern einfach die körperliche Versorgung so dringend brauchen, dass man mit seelischen Verletzungen umgehen muss. Das ist ehrlicherweise meistens so, egal, wo man als trans und/oder neurodivergente Person hinkommt, weil ein Comingout oder auch sichtbares Transsein eben immer auch bedeuten kann, dass man sonst komplett ohne Versorgung dasteht – etwas, dass man sich während einer Schwangerschaft, aber eigentlich auch sonst nicht leisten kann. Natürlich ist das trotzdem auch ein Grund, wieso trans Menschen insgesamt seltener zu Ärzt*innen gehen und dementsprechend auch Krankheiten schlechter und später behandelt werden als oft nötig. Wenn wir es doch tun, wenn wir hingehen, wenn wir offen sind, sind wir meist diejenigen, die unbezahlte Aufklärungsarbeit leisten. Wenige Ärzt*innen haben Unikurse oder Fortbildungen zu Queerness und Transgeschlechtlichkeit besucht, ähnlich sieht es auch bei medizinischen Fachangestellten, Pflegepersonal und Hebammen aus. Es wird über Anreden, Namen und Pronomen diskutiert, statt sie einfach ins System einzutragen, es wird über „weibliche“ und „männliche“ Körper gesprochen, die die meisten trans Menschen so nie bezeichnen würden. Egal, wie meine Genitalien sind, mein Körper ist nichtbinär, der von trans Männern ist männlich, der von trans Frauen ist weiblich. Körper sind nur Körper und nicht per se Geschlechtsausdruck.

Zurück zu meiner Schwangerschaft. Nachdem ich mich entschieden habe, das Kind zu behalten, suche ich nach Literatur. Gibt es Bücher über queere Schwangerschaft oder welche von nichtbinären Eltern, die über ihre Elternschaft schreiben? Ich finde eines von einem nichtbinären Elter, das aus den USA geliefert werden muss, und in dem ich mich zwar irgendwie wiederfinde, das mir aber stilistisch nicht gut gefällt, und noch eines für Fachpersonal über queere Geburten. Ich lese ein weiteres über geschlechtsoffene Erziehung von Ravna Marin Siever (große Empfehlung) und sehne mich so sehr nach mehr, aber mehr scheint es derzeit nicht zu geben (insgesamt denke ich irgendwann: alles muss man selber machen). Bei der Literatur über autistische Elternschaft sieht es nicht viel besser aus. Während es zig Bücher darüber gibt, wie man mit einem autistischen Kind umgehen lernt, gibt es fast nichts darüber, wie autistische Elternschaft sein kann. Ich finde eines darüber, wie man als Autist*in lernen kann, seine Kinder zu lieben und empfinde das nicht als mein Problem. Ich fühle mich dem Kind verbunden, habe schon während der Schwangerschaft eine unbestimmte Liebe für das Kind. Stattdessen überfordern mich die ständigen Veränderungen meines Körpers, die Bürokratie, wenn man unverheiratet ein Kind bekommt, die Sorge, wie ich sensorisch ein Kind aushalten soll, ob ich das aushalte, wie ich die Geburt schaffe, ob ich dabei nonverbal werde und wie das dann klappen kann. Ich finde schließlich ein Buch einer britischen Autorin, und finde mich in nahezu allem wieder, das sie beschreibt. Ich empfehle alle Bücher, die ich so lese, an meine Bezugspersonen und das betreuende Fachpersonal, leihe sie aus, und hoffe, dass wir gemeinsam einen guten Umgang mit allem finden können.

Neben Literatur suche ich auch nach einer Hebamme, die nichtbinärfreundlich und im Idealfall auch neurodivergenzfreundlich ist. Mit Lea, die dann meine Hebamme für Vor- und Nachsorge wird, lande ich einen Jackpot. Queerfeministisch, verständnisvoll und gelassen in Bezug auf Autismus, ADHS und Depressionen, nicht esoterisch, kein Gelaber von „Urweiblichkeit“ und ähnlichem, was man in gewissen Instaprofilen liest, sie spricht mit mir über meinen Uterus, die Brüste, die Vulvina, ohne dabei von Weiblichkeit zu sprechen. Obwohl ich noch im Prozess der Namens- und Personenstandsänderung stecke, trägt sie sofort den korrekten Namen in ihre Bögen ein und ärgert sich einmal mehr, dass das Onlinesystem, das sie nutzt, so binärgeschlechtlich nur von Frauen und Müttern spricht.

Im vierten Monat ist endlich die Namens- und Personenstandsänderung durch. Kurz darauf erfahre ich, dass es möglich ist, dass ich trotzdem mit dem alten Namen in die Geburtsurkunde des Kindes eingetragen werden könnte, das hängt wohl von den Standesbeamt*innen ab. Im Falle dessen bedeutet das ein ständiges Outen und damit potenzielle Gewalt- und Mobbingerfahrungen bei jeder Kita- und Schulanmeldung und anderen Prozessen, bei denen die Geburtsurkunde des Kindes eine Rolle spielt. Schlimm genug, dass die gebärende Person darin grundsätzlich als Mutter bezeichnet wird, egal ob sie cis weiblich, trans männlich, nichtbinär, agender oder intergeschlechtlich ist.

Im fünften Monat und mit wachsendem Bauchumfang fängt es dann an, dass ich immer wieder diese eine Frage gestellt bekomme: Und, weißt du schon, was es wird? Klar, hab ich gesagt. Ein Kind und ein Glück kein Elefantenbaby, denn das müsste ich ganze 24 Monate austragen, und darauf habe ich gar keine Lust. Dass ich Witze mache, denken die Leute, dass ich es nicht sagen will, was es denn wird. Dabei weiß man es eben nicht. Nach der Geburt wird Menschen aufgrund ihrer körperlichen Merkmale – nur der äußerlich sichtbaren wohlgemerkt – ein Geschlecht zugeordnet. Ich frage mich oft wozu, am Ende sagt es nichts darüber aus, wer wir als Menschen wirklich sind, sondern zwängt uns in Schubladen und Kategorien und denkt oft nicht über Grenzen hinaus.

Aber nicht nur Kinder werden bereits mit der Geburt in Schubladen gesteckt, sondern eben auch ihre Elternteile. Nie wurde ich mit so vielen Vorurteilen, ungefragten Meinungen und unsensibler Fremdwahrnehmung konfrontiert wie in der Schwangerschaft und jetzt mit Kind. Das Wort „Mama“ haftet mir an wie ein zweiter, ungewollter, verfluchter Schatten. Ich bin keine Mama, nur weil ich ein Kind geboren habe. Nichts davor konnte mich so sicher machen in meiner Geschlechtsidentität wie diese Schwangerschaft. Auf eine absurde, wunderschöne Weise hat mir diese Schwangerschaft eine Versöhnung mit den Teilen meines Körpers geschenkt, die die Mehrheit der Gesellschaft als weiblich einordnen und mich so sicher wie noch nie als nichtbinär zu verorten. Das Label Frau passt nicht. Hat nie gut gepasst, war immer nur eine Schublade, in der ich nicht sein wollte. Trans, nichtbinär, [gender]queer, das fühlt sich richtig an, echt und vor allem: selbstbestimmt.

Ende Januar habe ich, ebenfalls und wunderbarerweise selbstbestimmt zuhause mein Kind zur Welt gebracht. Es gab Kommunikationskarten, falls ich nonverbal werde, drei enge Bezugspersonen, die neben den Hebammen da waren, und die große Sicherheit meiner eigenen vier Wände. Das alles war möglich, weil ich das Glück hatte, eine risikoarme Schwangerschaft zu erleben, Hebammen zu finden, die Hausgeburten machen, selbst die Bereitschaftsgebühr zahlen konnte. Auch das ist nämlich Teil von fehlender Selbstbestimmung, dass Krankenkassen die Bereitschaftsgebühr von 800€ nicht voll erstatten, sondern nur bezuschussen.

Im weiteren Verlauf hatten wir das große Glück, dass die zuständige Person im Standesamt einfach und unkompliziert meinen richtigen Namen in die Geburtsurkunde eingetragen hat. Wir erziehen das Kind, so gut es eben in dieser Gesellschaft geht, geschlechtsoffen, es wird mit vielen trans und nichtbinären Menschen im Umfeld aufwachsen, Neopronomen und Namenswechsel normal finden und seine Eltern mit Vornamen ansprechen, nicht mit Mama und Papa. Trotzdem wird es vermutlich früher oder später mit der Frage konfrontiert werden, warum es keine Mama hat, oder die Aussage bekommen, dass es sehr wohl eine Mama haben muss. Und ich hoffe, dass wir ihm die Sicherheit mitgeben können, solche Situationen gut zu meistern und es sowieso immer aufzufangen, wenn nötig.

Um zu schließen, möchte ich Ihnen und euch mitgeben, was trans und oder neurodivergenten Schwangeren für selbstbestimmte Schwangerschaften und Geburten aus meiner Sicht im Moment noch fehlt, zusätzlich natürlich zu den grundsätzlich bestehenden Problemen und Defiziten in der Geburtshilfe:

  • Trans- bzw. queer- bzw. autismussensibilierende Fortbildungen von medizinischem Fachpersonal auf allen Ebenen
  • Sichtbare und umgesetzte Queer- und Neurodivergenzfreundlichkeit in Praxen, Formularen und auf Praxishomepages, z.B. durch geschlechterinklusive Sprache und Symbole in Pridefarben, Möglichkeit zur Onlineterminbuchung, etc.
  • Umgestaltung des Mutterpasses, z.B. in Schwangerschaftspass
  • Umgestaltung der Geburtsurkunden, weg von Mutter und Vater hin zu Elternteilen
  • Mediale Repräsentation in Serien, Filmen, Büchern, sozialen Netzwerken
  • Queer- und transfreundliche Eltern- und Stillcafés
  • Bewusstsein dafür, dass alle Menschen, egal welcher Geschlechter, Eltern werden können, Kinder gebären können.